Gauckbrief

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,

zunächst möchten die Unterzeichner dieses offenen Briefes Ihnen zur Wahl am 18.3.2012 gratulieren und alles Gute für Ihre Amtszeit wünschen. Gleichzeitig bitten wir Sie, sich unser Anliegen, das wir in dieser Form an Sie herantragen möchten, für die Zeit Ihres Wirkens zu Herzen zu nehmen.

In letzter Zeit waren in den Medien einige Zitate von Ihnen zu lesen, die nach der anfänglich geradezu euphorischen breiten Befürwortung Ihrer Kandidatur in der Bevölkerung für die Wahl zum Vertreter unseres obersten Verfassungsorgans eine unterschwellige Angst zutage treten ließen, nämlich die Befürchtung, Sie könnten bei Ihrem Wirken den Aspekt der Freiheit zu sehr und den Aspekt der Liebe zu wenig betonen. Es fehlt uns in Deutschland aber nicht mehr an Freiheit, sondern in einem sehr hohen Ausmaß an echter, gelebter Liebe, die sowohl der Freiheit als auch der Verantwortung erst Ihren Sinn gibt und ihnen Ihre wahre Bedeutung verleiht:

Freiheit und Liebe bedingen einander genau so wie Freiheit und Verantwortung.

Wir sind zwar nicht unglücklich darüber, dass ein verantwortungsbewusster, die Freiheit liebender und ernst zu nehmender ehemaliger Pastor nun das oberste Staatsamt ausübt; aber unsere Bitte an Sie ist: Kommunizieren Sie Freiheit bitte auf Augenhöhe mit Liebe.

Wie meinen wir das? Nehmen wir einmal als aktuelles Beispiel die Geldwirtschaft: Dieser durch zu viel Freiheit geradezu entartete Lebensbereich muss entweder durch (Selbst-)Einsicht neu geregelt oder vom Gesetzgeber, also durch Eingriffe des Staates, an eine kürzere Leine genommen werden - ähnlich wie der Straßenverkehr, in dem Freiheit ja auch nicht grenzenlos möglich ist, ohne anderen Wesen zu schaden. Gelingt dies nicht, so wird die von Ihnen so gelobte »freie« Marktwirtschaft letztlich ebenso zusammenbrechen wie die kommunistische Diktatur, die aus einem Mangel an Freiheit (und Verantwortung) zugrunde ging.

Durch die Analogie zur allgegenwärtigen Krankheit Krebs kann man die Destruktivität einer falsch verstandenen Freiheit ohne Liebe sehr gut erkennen. Wenn Freiheit nicht mehr zum Wohle aller Beteiligten, sondern in einem relevanten Ausmaß zum eigenen persönlichen Vorteil missbraucht wird (wie im Kapitalismus, der freien Marktwirtschaft) entsteht Krankheit genau so wie umgekehrt, wenn die Freiheit des Individuums zu sehr eingeschränkt wird (wie im diktatorischen Kommunismus). Wir befürchten, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, die angebliche Heilkraft des freien Marktes zu sehr idealisieren.

Freiheit wird v.a. im gegenwärtigen Wirtschaftsliberalismus weitgehend missverstanden als egobezogene Freiheit gegen einander anstatt respektvoll mit einander und im Einklang mit den vorhandenen Ressourcen zu wirtschaften. Man spricht ja auch von einem Wirtschaftskrieg; der Top-Manager Piech nennt seine Leute "Krieger". Ist dies das Modell zum inneren Frieden, zum Glück?

Verantwortung wächst aber doch gerade denjenigen zu, die ihre Freiheit dazu nutzen, persönlichen Wohlstand zu generieren. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen neuen Geldadelsstand hinweisen: 10% der Deutschen verfügen über ca. 70% des Geldvermögens, in anderen Staaten ist das Verhältnis noch krasser. Viele dieser Menschen haben ihren »krebsigen« Reichtum zwar aufgrund persönlicher Freiheit, aber gerade nicht durch Handeln aus Verantwortung und Liebe erlangt. Ist das christlich? Ist das im Sinne der Liebe? Ist es richtig, diese Schere immer weiter aufgehen zu lassen? Ist es richtig und gerecht, dass eine ALDI-Süd-Mitarbeiterin 1000 EUR Brutto im Monat verdient während der Ladenbesitzer durch Ihre Arbeit 56 Milliarden EUR Privatvermögen bilden konnte? Fällt das unter den verbreiteten Slogan "Arbeit soll sich lohnen"? Oder ist es im Sinne der Liebe vielleicht doch sinnvoller, darauf hin zu arbeiten, dass sich diese Schere wieder schließt, und dass Unternehmertum und Finanzwirtschaft zu ihren eigentlich dienenden Aufgaben zurückgeführt werden? Auf Letzteres wies bspw. Bundespräsident A.D. Köhler geradezu vehement hin ("musste" er auch deshalb zurücktreten?).

Vor diesem Hintergrund können sehr viele Menschen über Ihre Aussage "Ich finde die Occupy-Bewegung unsäglich albern" nur ungläubig den Kopf schütteln, wie auch über manche Sätze zur Sozialpolitik aus Ihrer Rede "Freiheit - Verantwortung - Gemeinsinn" von 2010. Ein Beispiel: "Ich will nicht gnädig sein mit denen, die arm sind, die abgehängt sind." Solche Sätze - zumal von einem ehemaligen Pastor gesprochen - fühlen sich so kaltherzig und gnadenlos polarisierend an, dass dabei selbst im Hochsommer eine Gänsehaut entsteht.

Wir meinen: Der Weg der Mitte ist der, der für alle Beteiligten am ehesten zum Wohl gereicht. Auf eine Staats- und Wirtschaftsform bezogen lässt sich der Weg der Mitte zwischen Kapitalismus und Kommunismus als soziale Marktwirtschaft bzw. marktwirtschaftlichen Sozialismus sehr gut umsetzen. Freiheit zum Wohle Aller führt außerdem zu einem weiteren Begriff: Den der Solidarität, dessen staatliche und alltägliche private Umsetzung das friedliche und gute Zusammenwirken von Freiheit, Verantwortung und Liebe im Alltag der Menschen erst bewirkt.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, wir bitten Sie darum, bei Ihrem Wirken die Werte Freiheit, Verantwortung und Liebe in einer nicht unsere Gesellschaft spaltenden Form als zusammengehörig zu vermitteln. Bitte machen Sie Ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutlich, worum es im Dasein wirklich geht: Liebe in Form zu bringen, um damit das Gute, Wahre und Schöne für alle Beteiligte zu vermehren, ohne dass es dabei Verlierer gibt. Und dies ist ganz sicher keine bloße Träumerei.

Hochachtungsvoll

Die Unterzeichner