Aufruf zum Wandel hin zur aufrichtigen Bildungsrepublik

An die Kultusministerien und die Landesschulbehörden der Länder der BRD

An die Bundesregierung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und den Bundestag

 

Kaum Rohstoffe, wenig Land, eine hohe Bevölkerungsdichte und immer komplexere Probleme in der Welt, in der wir leben. In Deutschland kommen u.a. noch demografische Entwicklungen hinzu und europaweit scheinen konservative und nationalorientierte Parteien in großem Aufschwung zu sein. Grund genug, uns doch noch einmal mit dem zu befassen, was am besten vor den meisten Verfehlungen schützen kann: Bildung.

Damit tut sich Deutschland offensichtlich schwer. Seit Jahrzehnten ist bekannt: besser kleinere Klassen, als große, besser mehr Lehrkräfte (LK) als weniger. Was ist passiert? Was ist wirklich passiert? Nicht viel. Klassen mit 30 Schülerinnen und Schülern (SuS) gibt es noch genug, die Zahl der LK stagniert und die Bedingungen für LK sind mit Sicherheit nicht besser geworden. Zudem bringen Inklusion, Migration und immer kenntnis- und leistungsschwächere SuS weitere Herausforderungen. Die, die im Schulalltag leben, sehen es jeden Tag.

Ich bin seit August 2016 als Quereinsteiger in den Schuldienst gekommen und konnte in den ersten Wochen meines Lehrerdaseins wahrlich einen Bilderbuchkulturschock erleben. In meiner ersten Hospitationsstunde in einer Fachklasse eines Metallberufes hatte ich den Eindruck auf der Straße in einem Ghetto gelandet zu sein. Nach 15 Minuten verließ ich den Klassenraum und ging sofort zu einem erfahrenen Kollegen, um in Erfahrung zu bringen, ob es immer so zuginge. Die SuS beleidigten sich lautstark, über die Hälfte hörte überhaupt nicht zu und der LK war es scheinbar egal. Mit meinem bisherigen Bild von Gesellschaft und menschlichem Miteinander hatte das gar nichts zu tun und ich war verwundert darüber, dass so etwas überhaupt möglich ist und noch dazu geduldet wird - ohne jegliche Konsequenz! Man sah mir wohl an, dass ich neu war. Der Kollege verstand meinen Unmut, meinte jedoch, dass dies eigentlich noch eine der guten Klassen sei.

Wo sind wir? Lebe ich in einem Land mit Anspruch oder in einem Land, dass in vielerlei Hinsicht den Sinn für Recht und Ordnung einfach verloren hat? Kann es sein, dass der Umgang im Klassenraum genauso ist wie auf der Straße? Wozu dann das alles?

So kann es nicht weitergehen. Wird es das, dann brauchen wir uns über nichts mehr wundern.

Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken. Wenn sich Politiker, wie damals Herr Gerhard Schröder, über LK als "faule Säcke"[1] äußern und die Behandlung von LK von den Landesschulbehörden tatsächlich so ist, wie ich es in den letzten Monaten von meinen Kollegen erfahren habe, dann brauchen wir uns über die Empathielosigkeit der LK nicht wundern. Dann machen die SuS eben das, was sie wollen, und die LK das, was sie will.

Im Matheunterricht der 11. Klasse einer Fachoberschule wurde ich dann noch einmal stark ernüchtert. Eins geteilt durch zwei, 18 geteilt durch zehn und drei mal acht sind Überforderungen wenn nicht sogar unmöglich. Ich kann nicht fassen, dass so etwas in der 11. Klasse nicht vorausgesetzt werden kann. Meter in Dezimeter, Liter in Kubikmeter, Volumen von Quadern und Zylindern, alles nicht vorauszusetzen. Mehr als die Hälfte der Klasse (13 von 21 SuS) ist hiermit überfordert. Wie kann es sein, dass diese SuS einen Realschulabschluss bekommen? Die Leistungen in anderen Fächern sind nicht besser.

Für viele mag all das Alltag und nichts Neues sein. Für mich ist es ein Signal, ein lautes, grelles Signal und löst einen schallenden Weckruf aus! Wachen Sie auf!

Wie können wir diese Zustände verbessern? Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, dass die beste und effektivste Methode die Verkleinerung der Klassen kombiniert mit der Vergrößerung der Zahl der LK ist. Das macht all das, was wir im Studienseminar als nützliche Instrumente, Methoden, Mittel kennenlernen entweder überhaupt erst einsetzbar oder sogar überflüssig.

Der Aufwand für die LK und die Energie, die aufgewendet werden muss, um überhaupt erst einmal eine unterrichtswürdige Atmosphäre zu schaffen, sind enorm. Dann noch hier ein bisschen Binnendifferenzierung, dort etwas Inklusion und ganz neuerdings auch noch Flüchtlinge mit eingeschränkten Deutschkenntnissen im Unterricht. Damit hat doch die LK alles, was sie zum erfolgreichen Unterrichten benötigt. Das Activeboard und die Dokumentenkamera sind doch auch noch da!

Ich kann mich nicht vor den Fragen retten, die andauernd in meinem Kopf auftauchen. Wollen, oder können Sie die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen? Sehen Sie überhaupt die Notwendigkeit für Maßnahmen? Sehen Sie nicht, dass die Zustände unerträglich sind und dass unbedingt etwas getan werden muss? Ist das für Sie in Ordnung? Was soll das Gerede über Bildungsrepublik, wenn diese Zustände Alltag sind und einfach nichts passiert?

Ich sage es für die am Bedarf der Wirtschaft Interessierten noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt:

Wenn unsere Vertreter wirklich ein manifestiertes Interesse daran hätten, unsere Unternehmen mit den nötigen Arbeitskräften zu versorgen, dann würden sie ohne mit der Wimper zu zucken die Größe aller Schulklassen sofort halbieren und die Zahl der LK bundesweit verdoppeln! Somit würden sie Themen wie Inklusion und Binnendifferenzierung obsolet machen und der Bildungssache in Deutschland einen wahrhaft echten Schub geben und jedem auf dieser Welt beweisen, dass es Deutschland mit der Bildung ernst meint! Stattdessen machen sich Theorien zur Inklusion, zu Gesamt- und Gemeinschaftsschulen und zur Binnendifferenzierung im Unterricht mit dem Ziel der möglichst individuell angepassten Auslegung des Unterrichts und Betreuung jedes Schülers breit, die doch nichts, rein gar nichts an der Qualität unseres Bildungssystems verbessern. Die LK müssen entlastet werden und sie müssen auf natürlichem Wege die Verbindung zu Schülern gezielter aufbauen können. Und das kann nur passieren, wenn die Klassen kleiner werden und die LK mehr. Und wissen Sie was dann automatisch passiert? Genau das, was jetzt mit einem riesigen Aufwand durch Binnendifferenzierung passieren soll. Der Unterschied: Es passiert dann auf einem natürlichen und viel entspannteren Wege. Und wissen Sie, was dann automatisch auch passiert? Die LK treten zu zweit auf und sind dadurch v.a. bei rücksichtslosem und unsozialem Verhalten viel handlungsfähiger. Es gibt nämlich immer eine zweite LK, die alles sieht und damit auch einen Zeugen.

Was ist daran so schwer? Das Geld? Dann werfen wir einmal einen Blick auf die Zahlen:

Der Bund hat 2016 16,4 Mrd. € von 316,9 Mrd. € für Bildung und Forschung ausgegeben.[2] Das sind 5,2% der Gesamtausgaben. Im niedersächsischen Haushalt gingen 2016 7,9 Mrd. € ins Bildungswesen. [3] 4,2 Mrd. € davon waren Personalkosten (hauptsächlich LK) für sämtliche öffentliche Schulen des Landes Niedersachsen.[4] Das sind 27,5% des Gesamthaushaltes (28,7 Mrd. €). Zum Vergleich: Die HRE bekam damals 2009 direkte Hilfen von 7,7 Mrd. € (und rund 124 Mrd. € Garantien).[5] Das war damals weit über die Hälfte dessen, was der Bund für Bildung ausgab (10,7 Mrd. €). Klar, Bildung ist Ländersache. Deshalb nun der Blick auf die Kosten für die LK:

In Niedersachsen sind insgesamt (allgemeinbildende und berufsbildende Schulen) 79.472 LK tätig.[6] Deutschlandweit gab es im Schuljahr 2014/2015 795.478 LK.[7] Länderübergreifend entfallen etwa 80% der Ausgaben auf Personal.[8]

Für Niedersachsen: Eine Verdopplung der Lehrkräfte würde also zu einer Gesamtanzahl von etwa 160.000 LK führen und dementsprechend zu einer Verdopplung der Kosten auf etwa 8,5 Mrd. €. Bundesweit hieße das bei der Annahme von durchschnittlich etwa 54.000 € pro LK und Jahr (A13, Vollzeit) einen Finanzaufwand von etwa 43 Mrd. €. Dieses Geld müsste in Deutschland, von Bund und Ländern gemeinsam für die Verdopplung der Anzahl der LK freigegeben werden. Bei einem öffentlichen Gesamthaushalt (ohne Sozialversicherungen) von etwa 650 Mrd. € sind das also etwa 6,6%.[9]

Die Begrenzung der Klassengrößen auf max. 15 SuS ist mit einer so hohen Zahl an LK ein Kinderspiel und es wäre dann auch üblich, dass zwei LK gemeinsam eine Klasse betreuen und dass es keinen Unterrichtsausfall mehr geben müsste. Welch segensreiche Vorstellung!   Wie fühlt sich diese Vorstellung an?

Noch einmal: Wenn wir uns das anschauen, dann muss sich folgende Frage aufdrängen: Wollen oder können Sie es nicht? Wollen Sie nicht die wirklich notwendigen und offenbar besseren Maßnahmen ergreifen oder können Sie es nicht, weil Sie es nicht mehr sehen? In beiden Fällen gehört dem ein Ende gesetzt. In beiden Fällen beweisen Sie, dass Sie nicht die geeigneten Vertreter des Volkes und Beauftragten sind oder eben, dass Sie Vertreter anderer Gruppen sind, die nicht im Interesse des Volkes denken, sondern im Interesse anderer.

Machen Sie die LK zu wertvollen Mitarbeitern und Dienern des Staates im Sinne einer hohen fachlichen, gesellschaftlichen, menschlichen, politischen und rücksichtsvollen Bildung! Fangen Sie damit an, Ihre Haltung zu LK zu ändern! Sehen Sie die LK als:

  • schützenswerte Aushängeschilder einer wahrhaftigen Bildungsrepublik.
  • Menschen, die es in der Hand haben, die Zukunft der SuS zu beeinflussen, für sie Beispiele zu sein und ihnen die jetzt richtigen Impulse für die Zukunft zu geben.
  • angesehene und wertgeschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft, die täglich an unzähligen Schrauben drehen können, um das Land in Zukunft Menschen zu überlassen, denen es überlassen werden kann.
  • Menschen mit einem Leben neben der Schule, für das sie auch Energie, Freude, Motivation und Frohsinn brauchen.
  • das wichtigste Gut unseres Landes für die Garantie des Erhalts einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.
  • Vorbilder, Idole, Motivatoren, Eltern, Beispiele, Mentoren, Coaches und vieles mehr.
  • die beste Investition, die dieses Land überhaupt nur tätigen kann und nicht als Zahlen und Kosten, die man auch meiden könnte.

Mit diesem Bild, mit dieser Sichtweise kann aus diesem Beruf und den Schulen wieder etwas Besonderes werden!   Was die LK von oben bekommen, sehen auch die SuS. Wenn die LK so viel Wertschätzung, Anerkennung und Rückhalt bekommen, dann sehen das auch die SuS und die Schulkultur wird sich rasant, tiefgreifend und nachhaltig ändern.

Ich appelliere an Ihren Wunsch, diese Republik tatsächlich zur Bildungsrepublik zu machen! Seien Sie der Wunsch selbst! Seien wir gemeinsam der Wunsch bis er Realität geworden ist!

[1] siehe: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/9198905

[2] siehe: https://www.bundeshaushalt-info.de/#/2016/soll/ausgaben/einzelplan.html

[3] siehe:

http://www.mf.niedersachsen.de/themen/haushalt/haushalt_zahlen/verteilung_einnahmen_und_ausgaben_hpe_2016/haushaltsplanentwurf-2016-darstellung-von-einnahmen-und-ausgaben--135929.html

[4] siehe Download "Einzelplan 07 - Niedersächsisches Kultusministerium", "Haushaltplan für das Jahr 2016, Einzelplan 07, Kultusministerium; S. 8

[5] siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Hypo_Real_Estate

[6] siehe: http://www.mk.niedersachsen.de/schule/lehrkraefte/

[7] siehe: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Schulen/Schulen.html

[8] siehe:

https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/Schulen/BroschuereSchulenBlick0110018149004.pdf?__blob=publicationFile

[9] siehe: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/09/PD16_342_71131.html